BEWEGUNG UND ARCHIV

Ein medienarchäologischer Zugang zum Tanz

Wolfgang Ernst (Berlin)

 

 

 

Die technische Adressierbarkeit von Bewegung

Während alphabetische Schrift eher das Programm, das Skript, ja die Ermöglichung von Theaterrollen und Dramaturgien bildete [de Kerckhove 1995], kann das Bühnenereignis selbst nur von solchen Medien registriert werden, die der Bewegungsaufzeichnung selbst fähig sind. Eine solcherart transitive Dokumentation von Tanz und Performance durch technische Medien ist jedoch mehr als ein Akt des Gedächtnisses, es ist eine Transformation. Video(choreo)graphie wird somit zum Subjekt wie zum Objekt des Tanz"archivs". Längst ist die analoge Videokamera als live-Medium in die Inszenierungen selbst gewandert (bei Frank Castorf, René Pollesch, Bsp. Anjo Negro) [Irmer 2004]. Sobald aber die Daten von den tanzenden Körpern (durch tracking etwa) diskret abgetastet werden, ergreift das Archiv die tanzende Gegenwart. Denn was einmal in Form digitaler, streng gesagt: mathematisierbarer Daten erfasst ist, lässt sich Bewegungsanalysen unterwerfen, wie sie die Analysis auf symbolischer Ebene entworfen haben und prozedurale, operative Medien selbst in Vollzug zu setzen vermögen, namentlich die automatisierte Analyse von Film- und Videosequenzen. [Böszörmenyi/Tusch 2003]

Ein leitmotivisches Stichwort der Wiener Tagung Digital Formalism lautete "digitizing the senses"; hiermit wird treffend auf den Begriff gebracht, was der epistemologische Witz an den grob benannten digitalen Technologien ist: dass sie den Menschen auf der Ebene seiner Sinne selbst, seiner neurologischen Funktionen, ebenso abzuholen, zu emulieren vermögen, und damit auch mitten ins Herz menschlichen Daseinsgefühls treffen, indem sie nämlich seinen Zeitsinn nicht nur adressieren, sondern ergreifen, ja massieren (im Sinne von Marshall McLuhan und Quentin Fiore).

 

 

Tanz und Archiv in Bewegung

Bekanntlich bleibt eine unerbittliche Differenz zwischen tatsächlichem und aufgezeichnetem oder gar errechnetem Tanz: Während reale Körper beim Tanz der Schwerkraft unterliegen, enthebt sie ihre technische Aufzeichnung davon wie die virtuellen Körper in Computerspielen den Gesetzen der Gravitation enthoben sind.

Für seine Angeheiratete, die Tänzerin Lavina Williams, entwarf Lew Theremin einst eine gewaltige Theremin-Vox, die nicht nur nahe Handbewegungen, sondern tänzerische Bewegungen unmittelbar in sonische Artikulation umzusetzen vermochte; hier geschieht die "Musik" durch die kunstvolle und kunstwollende Veränderung des elektromagnetischen Feldes, das die Apparatur mittels zweier Schwingkreise und Antennen ausstrahlt, durch den Körper, der durch seine Erdung eine kapazitive Kopplung variabel herstellt. "Verkehrte Welt: Nicht mehr der Tänzer bewegt sich nach der Musik, die Musik entsteht aus der Bewegung des Tänzers." [Skolnik-Nipkau 1995]

In 3D-Räume umgerechnet, wie etwa in der Installation Le Sacre du Printemps von Klaus Obermaier, die auf der Ars Elecronica Linz 2007 (Futurelab) eine 3D-Projektion der Bearbeitung von Strawinskys Stück präsentierte, fehlt dem Archiv das Wissen um dieses Newtonsche Gesetz, und statt dessen erfolgt eine Übersetzung in den Einstein-Raum. Gegenüber den (so Carl Hegemann) "Chimären der virtuellen Physiognomie", wie sie in den "physics"-Engines der Computerspiele programmiert werden, setzt der körperliche Tanz auf den Widerstand des Materials. Schauspieler und Tänzer aus Fleisch und Blut erscheinen so als Retroeffekt ihrer digitalen Simulierbarkeit (frei nach Jean Baudrillard).

Das Verhältnis von Tanz und Archiv ist keines von aktualer Gegenwart und aufgespeicherter Vergangenheit; das Archiv der Bewegung greift vielmehr auf die Bühne der Präsenz selbst über, wenn - wie in dem von Gisela Dilchert und Christina Ciupke choreographierten Tanz unter dem Titel Bild / Bewegung 002 (Berlin, Stadtbad Oderberger Straße) - Dias auf die Haut der Tänzer projiziert und damit in Bewegung gesetzt werden.

Technologische Zeitachsenmanipulation ist nur im Spiel mit ultrakurzer Zwischenspeicherung möglich, und von daher mit dem neurobiologischen Schematismus unserer Wahrnehmung gegenwärtiger Bilder (der "Gegenwartsdauer" von bis zu drei Sekunden Ausdehnung des sogenannten Jetzt) selbst verwandt. Erst Messmedien kleinster Zeitmomente enthüllen dieses mikrozeitliche, mithin zeitkritische Element am Tanz.

 

 

Wahrnehmung von Bewegung: "Innervation" (von Helmholtz)

Die epistemologische Dimension des Tanzes ist keine philosophische Abstraktion, sondern enthüllt sich mitten im Vollzug von Körperwelten. "Innervation" ist der Prozess, mit dem der Physiologe Hermann von Helmholtz die Umsetzung von motorischen Impulsen in Bewegung benannte. Florian Schreiner ist im Rahmen seiner Recherchen für die Dissertation Musik und Gewalt [1] das Glück widerfahren, im Firmenarchiv von Siemens in München auf ein bislang unveröffentlichtes, undatiertes Manuskript aus der Feder von Helmholtz' zu treffen (Thatsachen der reinen Erfahrung. I. Das Sein). Darin beschreibt von Helmholtz das sensomotorische Gedächtnis, das die Grundlage unserer alltäglichen Bewegungen bildet, als "experimentelle Induction" und wählt damit einen Begriff, der nicht nur der logischen Schlussfolgerung entstammt, sondern auch der Entdeckung elektro-magnetischer Kraftverhältnisse durch Michael Faraday. Im sensomotorischen Gedächtis ist Bewegung als Option von Abläufen quasi algorithmisch archiviert - eher also als Schema denn als konkrete kinematographische Sequenz, ein generatives eher denn ein passives Archiv. Im Tanz wird diese physiologische Behandlung des Seins zeitkritisch konkret. Der Bewegungsimpuls, der durch Innervation der motorischen Nerven gegeben ist, verweist weniger auf Semiotik denn auf Signalverarbeitung. Zeitpunkte, von Helmholtz so genannte "Präsentabilia", bestimmen die tanzende Orientierung im Raum, und die Messmedien der Physiologie wurden entwickelt, solche zu archivieren, d. h. analysierbar zu machen. Das Tanzarchiv dient damit weniger der kulturemphatischen Bewahrung denn der Ermöglichung von Analyse.

 

 

Wissen von Bewegung: Kinematik

Einerseits ist Tanz eine kulturelle Artikulationsform; andererseits aber artikuliert sich im Tanz ein Wissen, welches nicht allein das des Menschen ist: Gesetze von Bewegung und Dynamik. Tanz wird von diesen Gesetzen als Medium des Zutagetretens gewählt. Soll nun Tanzwissenschaft ihr Gegenstandsfeld bis in diese Weiten hin ausdehnen, oder übergibt sie dies arbeitsteilig an eine Medienwissenschaft, die als Wissen um dynamische Prozesse gerade nicht auf die Kunstform beschränkt ist, analog dazu, wie Claude Shannon in einer notorischen Bemerkung (1949) unterstreicht, dass die mathematische Theorie der Kommunikation die semantischen Aspekte der Nachrichtenübertragung gerade unberücksichtigt lässt?

Der Theaterwissenschaftler Helmar Schramm definiert "Theatralität" nicht etwa als Verhältnis von Ästhetik, Kunsttanz und kultureller Semantik, sondern präziser als eine spezifische Relation von Aisthesis, Kinesis und Semiosis. [Schramm 2000] Diese Trias zu analysieren aber kommt einer genuinen Bewegungsforschung zu; ihre Analyse erfolgt mit technischen Messmedien, nicht mit verbaler Ekphrasis.

Claudia Jeschkes Studie Tanz als BewegungsText liefert Ansätze, szenische Kulturkünste wie Theater und Tanz medienepistemologisch zu deuten; ihr verdanken wir den Ausdruck der "Theoriefähigkeit von Bewegung". [Jeschke 1999: 177] Ein solches Plädoyer läuft auf den Begriff von kinetischem Wissen hinaus: Tanzarchive können in epistemologischer Hinsicht für die Speicherung von Bewegungen, Kinetik allgemein zuständig sein, von Menschen und jenseits. Kinetische Energie ist als Form der Bewegung und damit als Fähigkeit eines bewegten Körpers, Arbeit zu leisten, definiert. Als Kunstform (Tanz) wird solche Energie Information, im Sinne der Definition der Nachrichtentheorie also: kalkulierte Unwahrscheinlichkeit.

Theoretische Kinematik, wie sie von Franz Reuleaux an der Technischen Universität zu Berlin entwickelt wurde [Reuleaux 1875], ist die Wissenschaft vom Gleichgewicht (der Statik) und von der Bewegung der Körper (Dynamik, Kinetik).

In der Kinematik wird allein die Bewegung (Lage, Geschwindigkeit, Beschleunigung) der Körper ohne Berücksichtigung der sich verursachenden Kräfte untersucht. Die Einbeziehung der Kräfte ergibt die Dynamik. [Eisenhardt 2006: 360]

Die analytische Durchdringung des Kinetischen gelingt keiner lebensweltlichen Alltagssprache mehr, sondern nur noch der Mathematik; diese hat dafür das mächtige Werkzeug der Differentialrechnung entwickelt (Leibniz, Newton) und vermag damit erstmals das Dynamische auf dem Weg über die Zeitachse zu integrieren. Auf Medienseite antwortet darauf die Elektrodynamik.

Rudolf Laban schreibt in seiner Choreographie: "Die Anfangsintensität (in Kraft, Zeit, Raum, Flucht) kann im Verhältnis zu vorangehenden oder nachfolgenden Bewegungen auch im An- oder Abschwellen begriffen sein" [Laban 1926: 76]; Bewegungen ohne diese Ein- und Ausschwingzeit (vertraut aus der Klanganalyse, analysiert durch Denis Gabor und synthetisierbar bis hin zu den heutigen Wavelets) "wirken mechanisch, unlebendig. Die harmonische Lebendigkeit der Bewegung verlangt einen dauernd fließenden Wechsel der Intensitätsnuancen" [Ebenda]. Damit betreten wir das symbolische Regime der mathematischen Analysis, im Unterschied zur schlichten Algebra. "Die Analysis übernimmt die herkömmlichen Regeln aus der Mathematik und wendet sie auf fließende, sich weiterentwickelnde Probleme an" [Ryan 2007: 31], etwa auf Phänomene der ungleichförmigen Beschleunigung, also das Wesen dynamischer Prozesse.

 

 

Tx-Transform

Die zwei zentralen Parameter von Bewegung bilden die Zeitachse "t" und die Raumachse "x". tx-transform ist der Name für eine von Martin Reinhart entwickelte Technik, welche diese Achsen im Medium des Films miteinander vertauscht.

Normalerweise bildet jeder einzelne Filmkader den ganzen Raum, aber nur einen kurzen Moment der Zeit (1/24 Sekunde) ab. Bei tx-transformierten Filmen ist es genau umgekehrt: Jeder Filmkader zeigt die gesamte Zeit, aber nur einen winzigen Teil des Raumes - bei Schnitten entlang der horizontalen Raumachse wird so der linke Teil des Bildes zum "Vorher", der recht Teil zum "Nachher"[2].

Körper werden demnach nicht schlicht als Abbild eines lokalen Vorhandenseins definiert, sondern als Zuständlichkeit in der Zeit. Solche Zeitraumschnitte haben zur Folge, dass etwa fahrende Züge mit zunehmendem Tempo immer kürzer zu werden scheinen, als wollten sie Albert Einsteins Relativitätstheorie visualisieren.

 

 

Die prekäre Allianz von Film und Tanz

Im Fall des klassischen Films bedarf es nicht nur einer Bewegung auf Seiten des Referenten, sondern auch einer apparativen Bewegung, um eine Bewegungsillusion zu erzeugen; das Zelluloid muss durch den Projektor laufen. So kommt es zu einem Differential. Gilles Deleuze erinnerte nach einhundert Jahren daran, dass der Film zum gleichen Zeitpunkt auftauchte, als die Philosophie, namentlich Henri Bergson, sich (nach der lange Zeit gültigen aristotelischen Definition von Zeit als Zahl oder Maß der Bewegung in Bezug auf das Vorher und Nachher) erneut darum bemühte, die Bewegung zu denken; hinzu tritt das Nachdenken der Physik über die Relativität von Zeit und Bewegung (Hermann Minkowski). "Es gibt eine Unabhängigkeit beider Forschungen, bevor eine Begegnung möglich wird" [Deleuze 1993] - oder vielmehr eine Gleichursprünglichkeit (ein weiterer Nebensinn des Begriffs der Medienarchéologie).

Deleuze plädiert ausdrücklich dafür, an den Film nicht Begriffe aus Wissenschaften von Außerhalb heranzutragen, sondern die filmischen Begriffe aus dem Medium selbst zu entwickeln. Und so kommt er zum Begriff des 'Zeit-Bildes', dem er ein ganzes Werk widmet: "Der Film arbeitet an einer Selbst-Bewegung des Bildes, sogar an einer Selbst-Zeitigung" [Ebenda: 87] - Autokinesis.

Einerseits stellt Film die früheste Möglichkeit zur Aufzeichnung und damit der signalrealen, nicht bloß symbolischen Analyse von Bewegungstheater dar (Tanznotation). Andererseits heißt dies aber auch: Die Analyse von Tanz findet immer in einem anderen Medium statt. Die wahre Medienbotschaft von Filmrollen in Tanzarchiven ist damit (frei nach McLuhan) gar nicht der Tanz, sondern die Kinematographie, und die setzt ein Regime nach eigenem medientechnischen Recht: die chronophotographische Reihe von 24 Bildern/Sek. und deren Montierbarkeit, deren Kader-Einheiten als quasi-atomistische Elemente.

"Slow motion": Kino erinnert schon im Namen (als "movie") daran, dass technische Medien eine Anmaßung in der Zeitsouveränität, nämlich Zeitachsenmanipulation bedeuten, kulminierend in der Eisenstein'schen Montage (die sich nach den Worten ihres Entwicklers im Bunde mit Meyerholds Biomechanik sah) [Bochow 1997]. Tanz kann die Form sein, diese aisthetische Manipulation seinerseits ästhetisch zu reflektieren: künstl(er)ische Verlangsamung als Form der Analyse dessen, was für die kognitive Wahrnehmung sonst zu schnell geschieht.

Kinematographie ist die Alternative zur tanzenden, menschlichen Bewegung, näher an der Maschine denn am Körper; Heinrich von Kleists Novelle Das Marionettentheater erinnert daran. Die mechanisch-kinematographische Bewegung (Automaten, Robotik) ist der Testfall von Tanz: Mit ruckweisen, avant la lettre kinematographischen Bewegungen wiederholt die Automate Olimpia in E. T. A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann (1816/17) immerfort die gleichen Gesten. Realisiert als Ballett Coppélia (Libretto Arthur Saint-Léon, 1870) eskaliert die Lage:

A dancer mimics a clockwork dancing doll simulating a dancer. The imitating movements, dancing twice removed, are redictably 'mechanical', given the discrepancies of outward resemblance between clockwork dancers and real ones. [Danto 1980: 428]

Der Choreograph Merce Cunningham schließlich ließ sein Ensemble nach den Regeln, also Algorithmen einer Software tanzen. Frühe Kinematographie (der Kamera-Projektor der Gebrüder Lumiére) ist selbst von demgleichen mechanischen Uhrwerk als Federmechanismus getrieben (getaktet), nur dass nicht die Anzeige von Zeit, sondern die Aufnahme von Bewegung die (gleichartige) Funktion dieses Mechanismus ist.

These discrepancies may diminish to zero with the technological progress of clockwork, until a dancer mimicking a clockwork dancer simulating a dancer may present a spectacle of three indiscernible dancers engaged in a pas de trois. By behavioral criteria, nothing would enable us to identify which is the doll, and the lingering question of whether the clockword doll is really dancing or only seeming to seems merey verbal. <...> The question of whether machines instantiate mental predicates has been cast in much the same terms since Turing. [Ebenda]

Das Sirenen-Motiv aus Homers Odyssee kehrt, so gedeutet [Blanchot 1982] wieder: als Verunsicherung des Menschen, nicht mehr mit der anthropologisch beruhigenden sinnlichen Trennung Mensch/Maschine operieren zu können.
Digital animierter Tanz stellt diese Frage grundsätzlich.

 

 

Diskretisierung der Bewegung

Der Komponist Philipp Glass vertonte einmal Tanztheater zum Thema Eadweard Muybridge (The Photographer, 1983). Der chronophotographische, also medienarchivische Begriff von rhythmischer Bewegung korrespondiert hier mit der mathematischen, algorithmischen Natur von Minimal Music.

Zenon von Elea formuliert im 5. Jh. v. Chr. das Paradox, dass Archilles im Wettrennen die Schildkröte, sofern diese nur am Anfang einen gewissen Vorsprung hat, nie einholt. Dieses Paradox aber ist ein Produkt des Denkens in Messintervallen, in  diskreten Beobachtungswerten, mithin der Chronophotographie (deren Rückbezug zum Tanz bei Marey und Muybridge evident ist). Das Gedankenmodell ist die Photoreportage dieses Rennens alias Chronophotographie:

Immer wenn Achilles den Punkt erreicht, an dem die Schildkröte zuvor war, nehmen Sie ein neues Foto auf. Diese Fotoreihe nimmt kein Ende. Angenommen, Sie und Ihr Fotoapparat arbeiten unendlich schnell, dann erhalten Sie eine unendliche Anzahl an Fotos. <...> Achilles wird die Schildkröte nie einholen. [Ryan 2007: 41]

Denken wir den gleichen Prozess aber nicht schrittweise (und diskretisieren ihn nicht chronophotographisch als Effekt des Messmediums), sondern als konstante Geschwindigkeit Achills, der eben nicht schrittweise seinen Lauf unterbricht, überholt er - trotz einer unendlichen Anzahl von denkbaren Schritten - die Schildkröte. Das Diskrete (quantisiert, "gesampelt", getaktet) steht hier gegen das Analoge.

Der Schritt (frz. pas) ist das kleinste Element des Tanzes und  das Produkt einer Analyse, die am Vokalalphabet geschult ist, also ein kulturtechnisches Training, scheinbaren Fluss (wie die gesprochene Sprache) in kleinste diskrete Einheiten aufzulösen (und damit auch synthetisierbar zu machen).

Das Derby in Epsom. Copyright zsloot (flickr).


Die Chronophotographie entstammt einer daran hängenden Wette, nämlich der Preisfrage des Pferdefarmbesitzers Leland, ob Malerei von Pferden im Galopp die Wahrheit der Bewegung zeige oder nicht: Gibt es einen Moment, in dem alle Hufe vom Boden abgehoben sind?[3] Die zur (positiven) Beantwortung dieser Frage entwickelte Methode der Chronophotographie zeitigt am Ende die Bewegung im Sinne der Definition von Aristoteles, nämlich als Auflösung der Dynamik in diskrete Intervalle.

Aristoteles insistiert: Jede Veränderung, jede Bewegung findet in der Zeit statt; ja Zeit gibt es mithin erst als Bewegung. Seine vielzitierte Definition "Zeit ist Zahl der Bewegung bezüglich früher und später" [Aristoteles 1979: 113, §219b1-2] macht deutlich, dass dieser Begriff von Zeit bereits eine theorieästhetische Funktion des Alphabets ist - desgleichen Alphabets, das laut Derrick de Kerckhove die Grundlage des altgriechischen Theaters ist. [de Kerckhove 1995] Tanz als Verschränkung von Zeit und Bewegung ist einerseits als Unterstellung einer absoluten "mathematischen" Zeit (im Sinne Isaac Newtons) messbar; die andere Perspektive aber sieht im Tanz selbst eine differentiale zeiträumliche Verschränkung, eine Zeitsetzung.

Luigi Russolo malt 1912/13 den Dynamismus eines Automobils in Öl auf Leinwand (also seinerseits mit liquider Materie im gestischen Vollzug). Dem stellt Bragaglia eine wahrhaft medienarchäologische Alternative entgegen: seinen (schon bei Marey ansatzweise experimentierten) Photodynamismus, der die Belichtungszeit (und damit Verzögerung) der Photographie nicht als Effekt, sondern als Mittel einsetzt, die Kontinuität einer Bewegung zu registrieren - womit sich die Photographie vom Buchdruck löst (in deren Tradition, Marshall McLuhan zufolge und in Anlehnung an Lewis Mumford, der Film als Ausdruck des Maschinenzeitalters noch steht), und wie es noch im präkinematographischen Zoëtrope anklingt.

Es war nur konsequent, als Wsewolod E. Meyerhold 1921 seine Höheren Regie-Werkstätten in Moskau auf der Basis des Taylorismus, also der quasi wissenschaftlichen Methode zur Optimierung von Arbeitsabläufen, gründete, unter dem Namen "Biomechanik". Doch Bergson kritisiert in Matière et Mémoire, dass gerade die Chronophotograpie den Charakter der Bewegung verfehle. [Braun 1992: 281] Die (ihrerseits chronographische) Alternative dazu ist die Bewegungsaufzeichnung nicht nach Maßgabe der alphabetschriftinduzierten Methode, sondern als Bewegungsschrift, etwa in Form von Étienne Jules Mareys Sphygmograph von 1860 (ein Pulsschreiber); die kymographische, also wellenschreibende Methode ist ihrerseits eine Alternative zu Muybridges Chronophotographie. Die Variante des Myographen (Marey 1866) registriert, hier schon ganz nahe dem Tanzschritt, die Zuckung von Froschschenkeln auf einem Kymographen - näher der Klangaufzeichnung denn der visuellen Schrift. Der Tanzschritt selbst wird vermessbar mit Mareys "Odographen", und Emile Douhoussets "Animal Mechanism" (1872) unterwirft auch den Pferdeschritt dieser Vermessung - womit wir bei Muybridges Urszene der chronophotographischen Animal Locomotion angelangt sind.

 

 

Harmonische Analysen: Tanznotation

Mit der "Physikalisierung" in der Analyse von Tanz (auf Aspekte der Energie, der zeitlichen Synchronisation, der Eukinetik Rudolf Labans und seiner Kinetographie) nähert sich auch die Tanznotation eher den Naturwissenschaften denn der Ästhetik an; die graphischen Methoden sind die der physikalischen Bewegungsanalyse und machen die Differenz zwischen Tanzästhetik und Biomechanik zu einer zwischen Semantik und Syntaktik. [Jeschke 1999: 39]
Wenn der sogenannte Effort-Graph eine Parametrisierung der Tanzbewegung vollzieht (Zeit, Bewegung, Raum), nähert sich die Notation eher der Ästhetik des elektromagnetischen Feldes denn der Ästhetik dramatischer Künste.

Die "Inventarisierung von Bewegung" [Jeschke 1999: 45] ist damit selbst schon der erste Schritt der (Tanz-)Archivierung. Vor dem Film war Kultur darauf angewiesen, Tanzbewegung gleich Musik symbolisch zu notieren. Zeit, Raum und Körper sollen hier integriert werden.

Aus dem Verfahren der Musiknotation werden zwei Aspekte auf die Bewegungsnotation übertragen - einmal das Prinzip der Addition (Bewegung setzt sich wie der Klang aus mehreren Elementen zusammen) und zum andern das Prinzip der Dauer (Zeitwerte der Bewegung werden durch die musikübliche Ausgestaltung der Noten vermittelt). [Jeschke 1999: 17]

Seit Fouriers mathematischen Analysen von thermodynamischen Prozessen werden auch abrupte Bewegungsdiskontinuitäten, Sprünge, Unterbrechungen, Impulse und Kanten als Grenzwerte von Überlagerungen harmonischer Schwingungen anschreibbar - und mithin die Umsetzung solch stetiger Prozesse als digitale, also rechenbare Impulse.

Norbert Wiener hat dann mit der sogenannten "Harmonischen Analyse" auch noch die scheinbar regellose Brown'sche Molekularbewegung, also Bewegung auf mikrophysikalischer Ebene, mathematisch domestiziert. In der Thermodynamik vollzieht sich ein wilder Tanz der Moleküle, das schiere dionysische Andere der apollinischen Kunstform Tanz. Das "jittering" der Partikel erinnert schon im Namen an einen Tanz aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.[4] Animationen im Internet vermögen mit Mitteln des Digitalen das scheinbar kontingent Dis/kontinuierliche zu simulieren. Das sollte uns (Tanz) zu denken geben.[5]

 

 

Medientheater: Erprobung der Mensch-Maschine-Interaktion

'Medientheater' meint nicht, wie der Begriff beim ersten Hören suggeriert, schlicht einen um Technologien erweiterten Raum, sondern setzt sich aus zwei sehr verschiedenen Komponenten zusammen: der klassischen, räumlichen Szene einerseits und dem Signallabor als "rechnendem Raum" (Konrad Zuse) andererseits. Seit es einen solchen rechnenden Raum gibt (später metaphorisch auch Cyber"space" genannt), existieren im Computer genuin mathematische Bewegungsformen, der Tanz von Mathematik. Tanz ist mit dem "rechnenden Raum" zu einem umfassenden Ereignis geworden: "Tanz der Elektronen" auf der Mikroebene; makroperspektivisch die Programmierung des ersten vollelektronischen Digitalrechners als raumfüllender Tanz der sogenannten ENIAC-Girls 1946. Die Elektronenröhre im Computer-Einsatz ist in der Tat ein Schauplatz, der Elektronen eine Bühne bereitet. Ein Aufsatz von 1930 über die Frequenz solcher Schwingungen erklärt: "Wir müssen zunächst den Mechanismus kennen, nach dem sich die Elektronen 'zu gemeinsamen Tanze ordnen'." [Möller 1930: 411] McLuhan definiert die Epoche der Elektrizität als Befreiung von der Gutenberg-Galaxis, also der Vorherrschaft von (Druck-)Schrift. Getanzt wurde diese Elektrizität von Loie Fuller; Felicia McCarren schreibt in diesem Zusammenhang von "the electric subject". Hier wird die Performance selbst elektrisch, und das unter den Augen des elektrischen Blicks (Bühnenbeleuchtung). [McCarren (1995]

 

 

Das "Algorhythmische"

Aus der Auseinandersetzung von tanzenden Körpern und algorithmischen Choreographien resultiert eine neue Form des Zusammenspiels von Tanz und Archiv. Bereits die Kinetographie Labans als Aufzeichnungsmöglichkeit von Bewegung erlaubt in ihrer "orthographischen" Variante ausdrücklich, nicht nur einzelne Momente, sondern ganze Bewegungsfolgen anzuschreiben. [von Laban 1928: 3]
Das Archiv ist dem Tanzereignis nicht mehr dokumentarisch nachgeordnet, sondern an der Produktion beteiligt, denn alle algorithmischen Notationen, wenn im Computer tatsächlich als Grundlage für die Prozessierung der Körpersignale am Werk, stellen selbst schon ein Archiv dar (der "stored-program computer", die Architektur von Neumanns). In diesem Zusammenhang macht ein unter Studierenden häufig anzutreffender orthographischer Verschreiber Sinn, wenn in Hausarbeiten die Rede von Algorithmen ist und dort "Algorithmus" steht. Im Wissen des Unbewussten schreibt sich hier der "Rhythmus" mit; ein Magister der Medienwissenschaft, Shintaro Miyazaki, hat dieses Wortspiel auf den medienarchäologischen Begriff gebracht. [Miyazaki (2008]

Das dezidierte Programm einer epistemologischen Bewegungsforschung untersucht konkrete kulturtechnische Artikulationsformen (zu denen der Tanz fraglos gehört) in ihrer Allianz oder auch Auseinandersetzung mit technologischen Medien als wissenserzeugende Prozesse, nicht schlicht als ästhetische Ausdrucksform, und fasst die Erprobung der Auseinandersetzung von Mensch und Maschine, das Aufeinandertreffen von humaner Artikulation und technischer Operativität in den Begriff von "Signalen performativer Körper". [Willeit] Es findet hier eine Dezentrierung des Menschen im Verhältnis zur (von ihm selbst geschaffenen) technomathematischen Kultur statt. In dieser umfassenderen Welt ist er, frei nach Bruno Latour, nurmehr einer unter diversen unmenschlichen Agenten.

 

 

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1 Eingereicht an der Phil. Fak. III der Humboldt-Universität zu Berlin, Dezember 2007

2 Siehe: tx-transform; Zugriff 25. Januar 2007. tx-transform ist zugleich der Titel eines Kurzfilms (Österreich 1998) von Martin Reinhart gemeinsam mit Virgil Widrich, worin diese technische Methode zum Einsatz kommt.

3 Siehe Géricault, Jean Luis Théodore. Das Derby in Epsom. 1821. Ölfarbe auf Leinwand, Paris: Musée National du Louvre

4 Ein Hinweis von Claudia Jeschke

5 Eine weitere Simulation (als Java Applet) ist zugleich eine Einladung Siehe hier ; zum Nachdenken über die Unterschiede in den digitalen Formaten der Darstellung von Bewegung: hier

 

Bibliographie

Aristoteles. Physikvorlesung. Hans Wagner (Übers.). Darmstadt 1979.
Blanchot, Maurice. Der Gesang der Sirenen. München 1982.
Bochow, Jörg. Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997. Böszörmenyi, Laszlo / Tusch, Roland. "Inhaltsbasierte Suche in Videoarchiven". In: Suchbilder. Ernst et al. (Hg.). Berlin 2003: 61-75.
Braun, Marta. Picturing Time. The Work of Étienne-Jules Marey. Chicago / London 1992.
Danto, Arthur E. "The use and mention of terms and the simulation of linguistic understanding". in: The Behavioral and Brain Sciences (1980), 3.
Deleuze, Gilles. Unterhandlungen. Frankfurt/M 1993.
Eisenhardt, Peter. Der Webstuhl der Zeit. Warum es die Welt gibt. Reinbek 2006.
Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus. Der Sandmann [1816]. Frankfurt/M 1986. Irmer, Thomas. "Das Theater des neuen Sehens. Zum Einsatz von Video und Film bei Frank Castorf, René Pollesch und Olaf Nicolai". In: quadratur, Heft 5 (Jahr 2004): 130-134.
Jeschke, Claudia. Tanz als BewegungsText. Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910-1965). Tübingen 1999.
de Kerckhove, Derrick. Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer. München 1995.
von Laban, Rudolf. Choreographie. Jena 1926; zitiert nach: Jeschke 1999.
von Laban, Rudolf. Schrifttanz. Heft 1 (1928).
McCarren, Felicia. "The "Symptomatic Act" circa 1900: Hysteria, Hypnosis, Electricity, Dance". In: Critical Inquiry. 21 (1995): 748-774.
Möller, H. G. "Über die Frequenz der Barkhausenschwingungen". In: E.N.T. (Elektrische Nachrichten-Technik). Heft 11 1930: 411-419.
Miyazaki, Shintaro. "Das Algorhythmische. Microsound an der Schwelle zwischen Klang und Rhythmus". In: Zeitkritische Medien. Axel Volmar (Hg.). Berlin 2008. Reuleaux, Franz. Theoretische Kinematik. Grundzüge einer Theorie des Maschinenwesens. Braunschweig 1875.
Ryan, Mark. Analysis für Dummies. Weinheim 2007.
Schramm, Helmar. "Theatralität". In: Ästhetische Grundbegriffe. Karl-Heinz Barck (Hg.). Stuttgart 2000.
Skolnik-Nipkau, Tanja. Musik aus der Luft. In: Die Zeit v. 24. März 1995.
Willeit, Simone. GenderSignals. Signale performativer Körper. Exposé zu einem Projekttutorium am Seminar für Medienwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin (unveröffentlicht).